Ordnung im Sinn - Martina Franca
«Damals herrschte noch Ordnung!»
Wie oft hatte sie diesen Satz gehört und sich gewundert.
Gewundert darüber, was das denn sei: Ordnung.
Wie kann Ordnung herrschen?
Darf Ordnung herrschen?

«Ich kann Ordnung nicht verstehen. Ich weiss nicht was Ordnung ist!»,
hatte sie gesagt, als es ihm wieder einmal dringend schien, sie darauf hinzuweisen, dass es so etwas wie Ordnung gebe. Ihre Argumente hatte er niedergeschmettert mit den Worten: «Du willst sie nicht verstehen. Du bist einfach bockig.»
Eigentlich hatte er schlampig sagen wollen, aber das traute er sich dann doch nicht.
Und weil es sie so ärgerte, dass alle von Ordnung sprachen und ständig Ordnung in ihr Leben brachten, wollte sie sie auch.

Wie Ordnung schaffen? Wie ergibt sich Ordnung? Kann Ordnung erschaffen, erstellt oder hergestellt werden?
Herstellen! Aber wie?
Sie setzte sich hin und erstellte eine Liste aller Aufgaben die einer ordentlichen, regelmässigen Erledigung bedurften. Als nächstes verteilte sie die täglich nötigen Aufgaben gleichmässig auf die Wochentage. Danach fügte sie die einmal wöchentlichen in ihren Plan ein.
Lange hatte sie gesessen und sich vorgestellt, was es bedeute, wenn sie fortan Ordnung hielt. Dieses Ordnungsverständnis zeigte, dass eine Ordnung nach der nächsten ruft. Schliesslich würde die Uhr ihren Tag bestimmen. Was sie nun vor sich hatte, erinnerte sie an den Stundenplan in der Schule. Bedeutete somit Ordnung ein Zurück zu den Anfängen?

Sie erinnert sich gut daran, wie sie es versucht hatte, bis sie zur Überzeugung gelangte, dass Ordnung nur ein anderer Name war für einen unersättlichen Kraken. Wer sich von Ordnung beherrschen liess, der würde bald erstickt und aufgefressen.
Nein, nie im Leben durfte Ordnung herrschen!

«Hat in meinem Leben je Ordnung geherrscht?»
Sie sieht sich in der aufgeräumten, ordentlichen Stube um. Sie fühlt sich fehl am Platz und flüchtet in ihre Bibliothek.
Vertrieben steht sie verloren da, lässt ihren Blick über die Bücherrücken gleiten, atmet tief durch. Ein warmes Gefühl durchströmt ihren Körper. Ihr ist, als stünde sie umgeben von Freunden. Alle drängt es danach, ihr eine Geschichte zu erzählen. Sie fühlt sich wohl und geniesst den Augenblick.

«Hat in meinem Leben je Ordnung geherrscht?» fragt sie die Bücherrücken.
Während ihre Augen über die Rücken wandern, steht sie da, wartet.
Ein Lächeln steigt in ihr hoch:
«Was werden die, die nach mir kommen über meine Ordnung sagen. Werden sie sich wundern, warum dieses Buch hier und jenes dort steht. Suchen sie nach der Logik der Bücherordnung. Oder sagen sie einfach: «Typisch, bei ihr herrschte nie Ordnung!» Weil sie nicht wissen können, dass dies die einzige Ordnung ist, die ich beherrsche?»

Ihre Ordnung bezog sich auf die Orte an denen sie ein Buch gelesen hatte. Anhand ihres Bücherregals konnte sie alle Stationen ihres Lebens in einer einzigen Umdrehung besuchen. Statt in Photoalben geklemmt, standen ihre Erinnerungen hier vereint, stramm in Reih und Glied.

Ihr Blick bleibt in der Mitte, an einem grünen Einband hängen "Die Berufung der Frau“. «Ja, da hatte ich mich gefragt, was denn meine Aufgabe sei», murmelt sie. Links steht "Die Mutterliebe“ und rechts von der Berufung "Der letzte Dreck, von den Freuden der Hausarbeit“.
Allein das Lesen dieser Titel setzt sie in der Zeit zurück.
Ihr Blick wandert, weiter geht sie im Geist die Gänge längst vergangener Tage:

Als er starb, hinterliess er ihr seine Sachen und eine Liste seiner letzten Wünsche. Unter anderem stand da, dass er sich kein ordentliches Begräbnis wünsche. Nein, man solle ihn verbrennen und seine Asche möge, wenn das denn in Ordnung sei, zu ihren Büchern ins Regal.
Drei Tage lag er aufgebart im offenen Sarg in seinem Arbeitszimmer.
Nach drei Tagen wurde er abgeholt und tags darauf in einer verschraubten Urne zurückgebracht.
Was bleibt von einem ordentlichen Menschen übrig ausser Erinnerungen?

Der Schraubenzieher seines Taschenmessers, das wie immer ordentlich in der obersten Schublade seines Schreibtisches lag, passte. Zwei Schrauben mussten gelöst werden. Und dann endlich, nein noch nicht – erst ein wüstes Knäuel Zeitungspapier, ein Gratisanzeiger, der Gratisanzeiger mit dem violetrosa Logo und grinsendem Steinbock – schäbig, wenigstens die Neue Zürcher Zeitung hätte es sein dürfen. Raus damit, et voilà: Knochensplitter und Asche, ein Agraffe des Sarges und möglicherweise weiter unten die Schraube aus seinem Knöchel.
Endlich, endlich war die Neugier gestillt.
Endlich Gewissheit: Asche lässt sich nicht wie Salz ins Meer streuen, Asche ist nichts Ordentliches, nichts Einheitliches. Asche ist ebenso vielseitig wie das Wesen, das sie einmal war.
Einzig, dieser Gratisanzeiger, der konnte da nicht bleiben, Seidenpapier musste her. Sie erinnert sich, wie sie beim Auswechseln, leise zu sich sagte: «Sei bloss vorsichtig, wenn du ihn verschüttest bleiben Teile von ihm hier, die dann einmal im Staubsauger verschwinden!»

«Der letzte Dreck, von den Freuden der Hausarbeit», fällt ihr in dem Moment wieder ein, nein, diesen Titel hatte sie sich nie zu eigen machen können. Dieser Titel erinnerte an ihren Kampf mit dem Ordnungs-Kraken. Den hatte sie an seinen Platz verwiesen, denn:
«Ordnung herrscht nie! Ordnung ergibt sich!»





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