Im Café - Martina Franca


Warum es mich in die kalte Nacht hinaus trieb, kann ich heute nicht mehr sagen. Aber wie schon so oft fand ich mich auf der Promenade wieder und sah mich um nach einem Lokal wo ich mich bei einem Kaffee aufwärmen könnte und vielleicht ein paar Seiten lesen.
So kommt es, das ich mich in einer verrauchten kleinen Bar wiederfinden und nach einem Platz Ausschau halte. Ganz hinten links scheint noch einer frei zu sein. Ein kleiner Tisch, ein freier Stuhl, am Tisch eine Person. Sie schreibt und wie ich in ihre Richtung blicke, trifft mich ein leerer Blick aus grossen Augen, der durch mich hindurch in eine andere Welt zu blicken scheint. Ich bahne mir einen Weg zu meinem Ziel, frage: "Darf ich?" und erhalte zu Antwort ein abwesendes Nicken. Ich setze mich und versuche zu lesen, merke aber bald, dass ich eigentlich über den Buchrand mein Gegenüber studiere.
Sie sass am Fenster und starrte auf die Strasse. Es war mir nicht klar ob sie wahrnahm was sich draussen abspielte. Ob sie auf jemanden wartete? Vor sich hatte sie ein Schulheft liegen und in der Hand einen Stift. Für Notizen, für Hausaufgaben? Dafür schien sie mir zu alt. Wie alt? Das war schwer zu sagen - kein Alter - und doch vom Leben geprägt - eher gequält. "Nur nicht sprechen müssen", das schien ihr Hauptanliegen. Hatte sie darum ein Heft dabei - konnte sie nicht sprechen.
Ein Kaffe und zwei Kapitel später treffen sich unsere Blicke zum ersten Mal. Sie rückt sich unvermittelt zurecht. Traurig, fragend blicken sie jetzt, diese grossen Augen. "Warum lesen Sie?" fragt sie mich.
Ich bin derart überrascht dass ich erst kurz hinter mich blicke und verdattert antworte:
"Um mir die Zeit zu vertreiben...."
Einen kurzen Moment sieht es so aus als wollte sie mir antworten. Doch sie schweigt, alles was ich ernte ist einen noch traurigeren erschöpften, etwas missbilligenden Blick und ein leises Kopfschütteln, das sagte: "Wieder so einer, ein Leser einfach halt..."
Dann sieht sie erst wieder aus dem Fenster, von dort auf das Heft vor sich, hält kurze Zeit ganz still, wie erstarrt sitzt sie da, plötzlich greift sie entschlossen nach dem Stift und wirft ein paar Worte aufs Papier. "Was schreibt sie, über mich? Was? Das was ihr Blick sagen wollte? Gibt es überhaupt solche Worte?" denke ich hektisch und noch bevor ich mir antworten kann hält sie inne und sieht mich erneut an. Bevor ich weiss, was ich tue, habe ich schon gefragt: "Und Sie, was Schreiben Sie? Bücher?"

"Bücher - Bücher ... - ... " höhnte sie, "was sind die schon - NEIN, Bücher sind NICHTS!" und blickt mich an, als hätte sie noch nie etwas so Dummes gehört.
Nach einer kleinen Weile fährt sie fort, mehr zu sich als mir: "Nein, Bücher, das ist Nichts, das ist kein Schreiben. Briefe, Briefe sind mein Leben...."
In sich gekehrt, noch immer mehr zu sich als mir fährt sie nach einer Weile fort:
"Heute wird nicht mehr geschrieben von Mensch zu Mensch. Heute wird mitgeteilt, am liebsten per Telefon, schnell ein Mail, in Eile unterwegs ein SMS...
Es ist als wären sich die Menschen weder die Zeit noch die Mühe wert.
Wieviel dabei doch verloren geht, das kann nur jemand wissen, der einmal schreiben durfte und Antworten erhielt, als noch geschrieben und nicht übermittelt wurde.
Statt Briefen schreiben sie heute Bücher, ein Buch, was ist das schon, NICHTS ausser Selbstbefriedigung für ein unsichtbares Publikum, das ist einfach, das kann jeder!
Briefe, Briefe, das ist Schreiben!"
Und jetzt sieht sich mich unvermittelt an; als wolle sie mich mit ihren Augen festhalten, mich zum zuhören zwingen: "Der Brief ist eine Komposition aus allem was in uns an Eigenem steckt: Zuerst muss etwas Geschehen, das mich bewegt, so sehr, dass es mir die Mühe wert ist, mich hinzusetzen Papier und Stift hervorzukramen und dann, ja dann...
gilt es Farben, Stimmungen, Düfte gar, Begebenheiten in abstrakten Zeichen zusammenzufassen, in Worten so aneinander zu reihen, dass es möglichst genau das schildert, erzählt was es just in dem Augenblick für mich bedeutet hat, als mit mir, in mir dieses etwas geschah.
Aber nicht nur das, ich muss bereit sein, mich in die Lage des Empfängers zu versetzen. Ich muss ihn ständig gegenwärtig haben, denn sonst ist es ganz und gar unmöglich, etwas so zu schildern, bebildern, zu erzählen, dass er es verstehen, fühlen, nachvollziehen, miterleben kann.
Einmal geschrieben geht es erst recht los. Beim Brief ist der eigene Brief immer erst der Anfang."
Ihre Augen lassen mich los und blicken in Irgendwo; beinahe verträumt stellt sie für mich fest:
"Dann kommt vielleicht eine Antwort. In der Antwort wird mir vielleicht eine andere Begebenheit geschildert, die zu meiner passt. Diese eine Antwort fragt nach, weist mich auf Details hin, die ich übersehen haben könnte, auf Merkwürdigkeiten. Zeigt mir dadurch einen anderen Blickwinkel, den des Unbeteiligten in meiner Sache, aber zutiefst betroffen in der Eigenen. Worauf vielleicht eine Schilderung zur Erläuterung folgt.
In aller Ruhe, ungestört in meiner eigenen Zeit kann ich sie lesen diese eine Antwort. Die, auf die ich gewartet habe, vielleicht nur Tage, vielleicht Wochen. Je nach meiner Stimmung, in der ich gerade bin, wenn ich sie wieder und wieder lese, diese Eine, wird sie mir immer andere Antworten auf diese Erste bieten. Je nach Stimmung ergeben sich neue Möglichkeiten und Zusammenhänge, die ich dann wieder in meine Antwort einfliessen lassen kann. Es ist immer wieder ähnlich und doch anders, hier liegt stets die Überraschung!
Erst aus einem solchen Austausch, entsteht ein Wechselspiel. Das schönste aller Spiele, ohne Gewinner und Verlierer, das Spiel das, das Leben spielt: ertragen, geteilt, vermehrt, bebildert, geschildert, erhalten, gestalten, verwundert verwandelt..... Ums Tauschen geht es, nicht ums Täuschen, tauschen, denn Briefe schreiben ist schliesslich gemeinsame Geschichte schreiben. Die Eigene und durch den Austausch auch die Gemeinsame, festgehalten in der menschlichsten aller Formen.
In Briefen findet sich die Realität der empfundenen Normalität.
Nicht in Büchern.
Briefe schreiben Geschichte.
Verglichen mit Briefen sind Bücher reine Werbung für eine Idee. Einfache, einmalige Aussagen, bereits tot zwischen zwei Deckeln unter einem Titel begraben."
Nun sass ich da, in Gedanken versunken wie sie, bis sie mich erneut fixiert und leidenschaftlich fortfährt:
"Briefe, in Briefen ist das Leben!
Sehen Sie, nur aus Briefen entsteht ein Mosaik bunter Teile, die sich schliesslich zu einem prächtigen Bild zusammenfügen lassen, das geprägt ist von Hoffnungen, Enttäuschungen, Liebe, Freud und Leid. Das sind die schönsten Bilder, die gehaltvollsten, die es auf dieser Welt gibt, von Mensch zu Mensch, über Jahre gestaltet.
Ja, Briefe, Briefe sind mein Leben!"

Noch während sie diese letzten Sätze sprach, sah sie mich an als wollte sie mich verschlingen. Als wäre es meine Schuld, dass keiner mehr Briefe schreibt und sich dadurch keiner mehr Zeit nimmt über sich und seine eigene Geschichte, die just in dem Augenblick von ihm selber, für sich selber geschrieben wird, nachzudenken. Geschweige denn, sie teilen zu wollen mit seinem Nächsten. "Soll doch jeder selber, ver... " schien sie stumm mit der Faust auf den Tisch zu hauen.
Schützend legte ich die Hand auf mein Buch und fragte: "Schreiben Sie viele Briefe?"

Sie erstarrt, ein unbeschreiblicher Schmerz scheint sie zu durchfahren, sie blickt weg und ruckartig zu mir zurück: "Wem...?"
rafft ihre Sachen zusammen, wirft ein paar Münzen auf den Tisch, steht auf und geht.......

Vergelstert, verletzt, wie geohrfeigt sass ich da!
Nehme das Buch in die Hände und schlage es auf: "Was war das eben? Was hat sie mir sagen wollen?" frage ich mich in das Buch hinein, das ich wie ein Schutzschild vor mich halte.
Im Geist sehe ich ihr nach und versuche zu verstehen, was sie sagen wollte:
dass nur wenn wir bereit sind uns die Zeit zu nehmen unsere Erlebnisse, Eindrücke mit jemandem zu teilen, dass nur dann unsere eigene Geschichte geschrieben werden kann. Dass nur wenn wir dies tun, unsere Seele eine eigene Heimat findet? Dass es uns nur so gelingen kann, uns in unserem Leben und somit in unseren Beziehungen zu positionieren. Dass nur durch das Erzählen, das Vergleichen, Veränderungen herbeigeführt werden können? Dass mitteilen nicht genügt, dass teilen, durch das Beteiligen, das Teil haben lassen unabdingbar ist?
Hat sie sagen wollen, dass das Schreiben von Briefen, einer der wichtigsten Schritte dafür ist? Dafür, dass..., wie sagte sie: dass nur so über Jahre ein buntes Mosaik gemeinsamer Geschichte, die Heimat jeder Seele, geschrieben, geschaffen werden kann.......
Und ich stellte mir vor wie es wäre wenn, wenn ich Briefe erhielte - Briefe mit Antworten auf Antworten, mit Bildern, die an meinen Bildern anschliessen. Ich stelle mir vor, wie daraus ein kunstvolles Mosaik entsteht, in allen Farben, Düften und Noten....

Die Frage: "Wem schreiben?" reisst mich jäh aus meinem Traum.
"Ja, wem...?"

Da ist sie, die gemeinsame Geschichte, ihre und meine...

Nun hielt ich es auch nicht mehr aus, in diesem verrauchten, lauten Lokal. Raffe meine Sachen zusammen, werfe ein paar Münzen hin und gehe.
Der eisige Wind auf dem Heimweg treibt mir die Tränen in die Augen.
Der Wind?

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